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1025Der Kullamannen ist Teil der UTMB-World Series und wird jedes Jahr etwa mittig zwischen Göteborg und Malmö ausgetragen. Allerdings im Winterhalbjahr, da es dem schwedischen Trailrunner offensichtlich zu einfach ist im Sommer durch die spröde Botanik am Kattegat zu rennen.
Es gibt einige Trailrunner, die sich den Kullamannen im November aussuchen, um ihre Quali für das UTMB-Hauptevent am Mont Blanc in Angriff zu nehmen. Die Höhenmeter sind mit 1.044 (104K) und 2.547 (100M) vermeintlich „überschaubar“, Hochalpin fällt am Ufer der Meerenge zwischen Schweden und Dänemark auch weg und einen Startplatz kriegt man normalerweise auch problemlos. Klingt machbar, oder? Wenn da nicht das unberechenbare Wetter, der morbide Humor des Veranstalter-Duos und die Kälte wäre. Das fängt schon damit an die 100K als „Sprint“ zu bezeichnen und hört mit einer mental vernichtenden 6K-Runde mit anfänglichem Blick auf das Ziel nach 98K bzw. 154K auf. Spätestens hier versagt es jedem den Spaß – jedenfalls bis etwa zum Zielbogen auf der Anhöhe über dem Hafen…
Wir haben das für Euch getestet.
Epilog
Den Anfang nahm das Projekt Kullamannen auf dem Rückflug vom Ultra X Jordan im Wadi Rum. Gegensätzlicher könnten zwei Rennen kaum sein. Das Eine in der sengenden Hitze der Wüste über 5 Tage und 225 Kilometer – das andere zeitlich ähnlich (November) im dann bereits kühlen Schweden am Kattegat über 104 Kilometer.
Sich darauf einzulassen, war in unserer Wüstengemeinschaft nur Joe bereit. Zwar zögerlich und unsicher, aber zumindest interessiert. Doch die Zeit drängte, denn die Startplätze des Kullamannen sind gut buchbar, aber nicht über alle Vorverkaufsebenen – irgendwann zwischen Tier 2 und 3 ist ausverkauft. Zumindest bei den beiden Langstrecken.
Joe willigte ein, obwohl er wirklich nicht wusste was das bedeutet. Für ihn war Schweden bestimmt eher Pippi Langstrumpf mit Elchen, IKEA und Zimtgebäck. Dazu gesellte sich noch Daniel, der trailrennende Bundespolizist, den ich schon beim Mountainman nach zwei Rennen in mein Herz geschlossen hatte. Nummer 3 wurde Charlotte, meine Frau, mit der klaren Ansage „Du fährst nicht ohne mich nach Schweden!“. Da wehrt man sich nicht, denn Lotte spricht Schwedisch, rennt zudem auch gerne durch das Gemüse und liebt das Land seit ihrer Jugend. Da wir eh seit langem (und sie sowieso immer) den Urlaub in Schweden verbringen, war es wohl klar, dass es dazu kommen musste.
Wir meldeten uns also schon 2023 bei Eröffnung der Anmeldung an, buchten ein Ferienhaus im Zielort Båstad und trainierten darauf hin. Doch es kam anders, denn Daniels Großbaustelle an den Knien mit schwerwiegenden Verletzungen am gesamten Gelenkapparat verhinderten seinen Start. Auch Lotte stieg drei Wochen vor dem Startschuss mit einer Oberschenkelverhärtung aus. Und damit es rund wird, ereilte mich selbst zur gleichen Zeit und in idealer Verfassung eine Gürtelrose. Als mir der Doc das eröffnete, wusste ich nicht was mich erwartet und ob das Thema wohl 3 Wochen später beendet ist. Einige Erzählungen von Freunden machten jedenfalls nicht nur keine Hoffnung, sondern eher düstere Befürchtungen auf eine lange Pause. Joe ging es auch nicht gut, irgendein schleichender Infekt raffte auch ihn dahin. Glücklicherweise war bei uns beiden eine Woche vor Startschuss Entwarnung angesagt, zwar schwächelnd, aber immerhin. Und so saßen wir (Lotte, Joe und ich) einen Tag vor Start am Flughafen München vor dem Gate und warteten auf das Einchecken. Lotte als Begleitung und Joe und ich mit ambitionierten Plänen das Ding zu rocken, egal wie.
Und dann steht plötzlich dieser eine Mensch vor uns, reicht uns die Hand und sagt „Ich komme mit!“. Daniel! Gerade noch im Dienst gewesen, jetzt schon auf unserer Showbühne und süffisant grinsend. „Wie Du kommst mit?“ entfuhr es mir und dazu „Du ver**** uns doch!“ Hat er nicht und Lotte wusste es, wenn auch nur sehr kurzfristig. Da bucht dieser wilde Vogel kurz vor Abflug noch ein viel zu teures Ticket um uns zu begleiten, Crewing zu machen und noch einen weiteren Läufer (Thomas, 100M) zu überraschen. Da bleibt einem die Spucke weg. Was für eine coole und selbstlose Socke! Und so flogen wir nun als Viererteam nach Göteborg, bekamen dort ein Mietauto-Upgrade (natürlich Volvo, was sonst?) und bezogen eine kleine Villa in Båstad.
Tag 1 – 30 Stunden vor dem Start
Die Jungs ziehen ins Obergeschoss, Lotte und ich bleiben unten. Die Chemie stimmt, aber so derart! Ein Wahnsinn und herrlich. Ein blöder Spruch jagd den nächsten und beim Erkunden des Orts (den Lotte und ich schon von einem Testlauf auf der 57k Strecke im Sommer kannten) können sich anscheinend auch Joe und Daniel für Land, Leute und Supermarkteinkäufe begeistern. Während wir uns über 50% – 50% Hackfleisch als Bolognese-Ingredienz für die Pasta vor dem Start lustig machen, die aus 50% Blumenkohl besteht, fischen die Jungs allerlei Experimentelles aus den Regalen und freuen sich nun (mutmaßlich) Schwedisch zu können, weil sich vieles ableiten lässt.
Ein entspannter 7k Lauf am Abend auf der „letzten Meile“ vor dem Ziel bringt Joe und mich in Rennstimmung und schreckt gleichzeitig ab. Fiese Nummer, die Läufer in Sichtweite zum Ziel wieder aus dem Ort herauszuführen und weitere 6k aufzubrummen. Wir ahnen, dass uns das am Freitag nicht gefallen wird!
Der Abend endet mit weiterem Verbalschwachsinn und strapaziert die Lachmuskulatur. Was für eine Kombo! Um 22:00 Uhr begleite ich mich selbst ins Bett, um den Schlaf ab 3:30 Uhr abzubrechen. Warum auch immer. Möglicherweise kommt jetzt etwas Nervosität auf, wenn ich sie auch nicht wirklich spüre.
Tag 2 – Der Renntag ist da…
Es ist Allerheiligen und wir können nun endlich die Startunterlagen abholen. Ein Tag früher wäre übrigens für alle Beteiligten einfacher, lieber Per, aber ok. 2K spazieren wir dort hin, stellen uns in die Schlange von allerlei skurrilen Typen mit langen Bärten, in Strandhosen und Schlappen und mit dünnen Tütchen aus der Gemüseabteilung, in denen das zu prüfende Equipment liegt. Unterschiedlicher könnten die Teilnehmer kaum sein aber die meisten teilen die gleiche Leidenschaft. An der Tür zum Race Center, gleichzeitig auch der Konsumtempel des Merch, lernen wir Karina kennen, die uns bis zum weit entfernten Tresen mit den Kontrollorganen begleitet. Weitere 20 Minuten wird es dauern, bis wir dort stehen und erfahren, dass Karina sich nur zu gerne direkt die Quali für das UTMB-Hauptevent machen möchte, um die Lostrommel zu umgehen. Alles oder Nichts ist die Devise. Im letzten Jahr war sie auf der 57K Strecke Seventh Seal hier 4. . Respekt! Dieses Mal soll es die 100K Strecke sein – Top 3 ist das Ziel um die begehrte Direktquali mitzunehmen. Ein mutiger Plan mit derart starken Läuferinnen wie Judith Wyder (Golden Trail Series Siegerin, Weltmeisterin im Orientierungslauf), Yngwild Kaspersen (Siegerin CCC 2023) oder Nicole Kessler (2022 Rennsteig und Transalpine Run Platz 2), aber warum auch nicht? Wir wissen alle was auf 100K alles passieren kann, jedem!
Der Tresen ist erreicht. Zwei grimmig starrende Prüfer scannen unsere QR-Codes, vergleichen die Ausweise mit der Registrierung und wollen das sorgsam gepackte und ungefähr 400x mit der Mandatory-List verglichene Backpack NICHT sehen. Die beiden sind etwa 12 Jahre alt und spulen ihre Kontroll- und Ausgabetätigkeit ab, also ob sie das schon seit der Grundschule machen. Nun gut, dann halt nicht. Flugs wird der Dropbag noch schnell befüllt und abgegeben. Organisator und Erfinder des Kullamannen Per Sjögren schwirrt durch die heiligen Hallen und begrüßt einige Läufer. Schön, wenn es so nahbar zugeht.
Nun gilt es bis zur Abfahrt um 20:00 Uhr (Mietwagen statt Bus) zu entspannen, einen Powernap zu probieren, noch ungefähr 10x zu überlegen ob die Wahl der Klamotten zu kühl, zu warm oder eventuell richtig sein könnte. Die Wettervorhersage sagte noch gestern: Sturmböen bis 65 km/h aus Südwest bis West, abflauend um etwa 22:00 Uhr. Bei Laufrichtung Nord bis Nordost und Ost bis etwa 02:30 Uhr, wäre der Wind evtl. sogar hilfreich. Die nun aktualisierte Vorhersage spricht etwas anderes: Sturmböen bleiben uns bis etwa 02:30 Uhr erhalten, kommen aber der Abwechslung wegen nun aus nördlicher Richtung! Großartig, aber so ist das eben an der Küste und in den Bergen. Alles ist möglich, da müssen wir jetzt durch.
Der Powernap von 30 Minuten war ein Fehlschlag. Habe entspannt, aber nicht geschlafen. Ist aber nun auch egal und nicht mehr änderbar. Wir essen alles auf was wir an Kohlenhydraten im Supermarkt gebunkert hatten, füllen die Speicher maximal auf. In den ersten 3 Tagen der Woche gab es bei uns ganz viel Fisch und generell Proteine, wenig Kohlenhydrate und der Kaffee wurden gestrichen, um die Wirkung der Sportnahrung mit Koffein etwas mehr zu pushen. Seit Donnerstag gibt es nun primär energiereiches Essen und bei mir ein gutes Sushi. Gefährliches Spiel, aber der Fisch sah extrem frisch aus und ich brauchte irgendwas mit Reis, was meine Stimmung weiter anhebt.
Um 16:00 Uhr rauschen im Abstand von etwa 5 Minuten vier Busse mit den 100-Meilen-Läufern am Haus vorbei. Daniel ist bereits am Start in Höganäs, um seinen Kumpel Thomas anzufeuern. Danach vertrödelt er die Zeit bis zu unserer Ankunft am Startort. Wir treffen um kurz vor 21:00 Uhr ein und freuen uns, dass ein großer Parkplatz unweit der Sporthalle mit dem Racebriefing zur Verfügung steht. Dort sitzen wir dann und warten auf einen der Renndirektoren, der uns im Anschluss von der ikonischen Strecke, Schafen und Kühen (sind in Ruhe zu lassen), dem Wind und den wechselnden Untergründen sowie von einem Teddy als Trostpreis erzählt, den man erhält, wenn man ausscheidet. Wir wollen keine Teddys, sondern Metall. Nach der Ansprache geht’s zum Start. Ein letztes Foto von Joe, Karina und mir und ab in die Startaufstellung.
Kurz darauf geht es hinüber zum Start und hier wird genau das geliefert, was wir in den letzten zwei Jahren unzählige Male in verschiedenen Videos gesehen haben und was mich sofort erreicht hat: Mega-Stimmung, Lichteffekte, das monotone herunterbeten markiger Halbsätze wie von einem schweigsamen Wikingerstammeshäuptling kurz vor der entscheidenden Schlacht. 10 Minuten vor dem Start beginnen die Kirchenglocken zu läuten und der maskierte Ritter mit Fackel und Kullamannen-Flagge erscheint vor der Startlinie. Runde um Runde dreht er und zeigt immer wieder mit seiner Flaggenlanze auf das Starterfeld. Düstere Musik begleitet die leicht morbide Darbietung, die ihre Wirkung nicht verfehlt. Der Kullamannen lebt viel von Mystik, von der rauen skandinavischen Natur, Wikingersagen und der überwältigen Mehrheit an Schweden, Norwegen, Dänen und Finnen. Wir sind hier eine absolute Minderheit vor einer nahenden Schlacht und nirgend anders könnte es gerade schöner sein. Motto des Kullamannen „“This thing was a monster, a slayer of strong men and women.“
Dieses Rennen ist keine Nummer in der UTMB World Series, es ist Familie, es ist anders, es ist rauh und kalt und windig – und es öffnet seine Arme, wenn Du das alles annimmst und bereit bist beim Kullamannen ein Schwede zu sein. Alles was vorher war, ist nach dem Kullamannen anders.Ingo Kruck, November 2024
Durch die Sturmböen nach Mölle – die ersten 12K
Der doofe Three, Two, One – Run Spruch als viel zu dezenter Start der letzten Jahre wurde gegen irgend etwas anderes ersetzt. Ich hab’s vergessen. Man würde eher einen gigantischen Kanonenschuss erwarten als dieses zarte Streicheln über die Startlinie. Vermutlich schmeißt der Gaul aber dann den Ritter ab und geht durch, was der Dramaturgie insgesamt zuträglich wäre, aber wohl unerwünscht ist.
Beeindruckt von der Szenerie vergesse ich die Uhr zu starten, merke es aber nach 100 Metern. Die lange Schlange windet sich nun aus der Stadt heraus an die Küste, der Ritter zunächst vorneweg, bis er sich verabschiedet und uns Wind und Wetter am Kattegat überlässt. Wir machen sehr schnell Bekanntschaft mit der Realität aus der letzten Wettervorhersage. Die Brandung bricht sehr nah vor dem Strand und weiße Schaumkrönchen sind im fahlen Neumondlicht zu sehen. Könnte wildromantisch sein, wenn wir jetzt mit einer heißen Tasse Tee am Ufer stehen würden. Tun wir aber nicht, wir laufen gegen die Sturmböen an, die wirklich intensiv und weitaus stärker sind, als wir das im Stadtkern ahnen konnten. Spätestens jetzt hat das Spiel wirklich begonnen und ich erinnere mich an meine Rennplanung die vorsah, auf den ersten 12K des größtenteils gut ausgebauten, oft asphaltierten Strandweg mit einer Pace von 6:00 die Kirche im Dorf zu lassen, aber dennoch nicht einzuschlafen. Für Joe ist das Tempo langsam und mir eigentlich auch, extrem viele Läufer überholen uns. Harte Sache hier standhaft zu bleiben und sein Tempo zu machen. Bis Mölle werde ich bestimmt 10x unsere Pace kritisieren und zur Vorsicht mahnen. Joe macht mit, was mich sehr freut, so können wir zusammenbleiben und das Abenteuer Kullamannen gemeinsam genießen.
Da man bis Mölle am Kullaberg durch zahlreiche Dörfer kommt, ist hier auch zu dieser Zeit gut was los. Kinder wollen abgeklatscht werden, Erwachsene trommeln, brüllen „Heja! Heja!“ und immer wieder sehen wir verkleidete Spaßvögel zu rhythmischen Klängen aus Bluetooth-Boxen. So macht das Spaß. Zwischendurch gibt es mit kurzen Abschnitten auf dem Wanderweg Kattegatleden ersten Sandkontakt, es geht durch ein paar Büsche, auf Kopfsteinpflaster und über kleine Brücken. Im Prinzip sind Kattegatleden und Skåneleden die eigentliche Rennstrecke, gewürzt mit ein paar belebenden Ausflügen in die wildere Botanik – aber vor allem hinter dem Kullaberg ist der Skåneleden sehr oft wild genug um das Laufen zu erschweren. Mit 1:05 Stunden kommen wir in Mölle an und haben somit eine Pace von etwa 5:55, was etwas unter dem Plan liegt, aber ok ist. Die immer noch heftigen Böen haben uns nicht ausgebremst, aber Kraft gekostet. Es geht nun durch Mölle und leider nicht am dn pittoresken Hafen des kleinen Orts vorbei, den wir schon letztes Jahr toll fanden, als wir den Kullaberg erkundeten und ich noch überlegte, ob es eine gute Idee ist hier zu laufen. In dieser Nacht werden wir den Kullaberg nur in seinem verlängerten Rücken überwinden, nicht aber die Singletrails mit den meistens matschigen Böden bis zum Leuchtturm hinauf nehmen. Auch das Abseilen in die Klippen und der Aufstieg wieder hinauf zum Trail bleibt uns erspart, das ist den 100-Meilern vorbehalten.
Bevor es in den anfänglich steilen Anstieg auf den Kullaberg geht, passieren wir einen Parkplatz mit einer ganzen Reihe Crewmitgliedern der Läufer. Auch Lotte und Daniel warten hier auf uns und lassen sich von den Headlamps blenden. Ein paar schnelle Worte im Vorbeilaufen und wir verschwinden auf dem Waldtrail des Kullaberg.
Irgendwo weiter oben und einige Kilometer später stehen im düsteren Wald und jenseits der Zivilisation zwei tanzende, ältere Damen mit umgehängtem Christbaumschmuck samt rot blinkenden LEDs im Wald, ein Ghetto-Blaster wummert lautstark Technobeats und das Heja! treibt uns an. So langsam wundert uns hier gar nichts mehr. Die Schweden! So geil!
Zwei Checkpoints und einmal Flugphase mit harter Landung
Das vorher noch relativ kompakte Feld zieht sich nun sofort dramatisch auseinander, das Plaudern von eben weicht einer angestrengten Stille als es den Berg hinauf geht. Nur der erste Teil über etwa 200m ist recht steil, danach geht es den gesamten Bergrücken entlang und an der Küste bei Arild wieder hinunter ans Wasser. Wir haben auf diesem Abschnitt merklich Plätze gutgemacht und ein paar Gesichter wiedererkannt, die uns vor Mölle überholt hatten.
Nun geht es auf dem Skåneleden immer am Wasser entlang zum ersten VP. Die Ortsunkundigen lernen hier erstmals den wilden Trail kennen, der sich am Wasser entlang über Bruchsteinfelder, Sandflächen und sumpfige Wiesen mit kippelnden Brücken und Weidegattern windet. Es wird anspruchsvoller und ab hier gilt es nun auch deutlich konzentrierter auf den Boden vor sich zu achten, sonst droht Aua oder gar Aus. Schnell kippt ein Stein unter dem Schuh zur Seite oder man tritt in eine Spalte oder ein Loch und das wars. Auch in dieser Nacht wird es in diesen Abschnitten wieder eine ganze Reihe DNFs durch genau solche Unfälle geben. Stürze sind beim Kullamannen keine Seltenheit, sondern die Regel.
Bei Kilometer 24,4 erreichen wir bei Svanshall den ersten VP im Hafen. Ein paar Tische, Getränke und zwei Kartons Schwedengebäck mit massivem Zuckeranteil im Hafer. Ich fülle eine meiner beiden Flaschen mit Squeezy Energy Drink Pulver aus dem Belt auf und greife in die Kekskiste. Joe ist zeitgleich fertig und so sind wir nach etwa 30 Sekunden wieder unterwegs. Das gefällt mir. Grundsätzlich bin ich doch recht kompetitiv und mag es nicht Zeit zu verschwenden, schon gar nicht so schnell nach gerade einmal 24K.
Joe hat sich anscheinend mit den Schweden-Keksen in eine Liebesbeziehung begeben und seine inhaliert, er fragt, ob ich noch welche habe. Gerne reiche ich einen weiter, denn derart viel Butter und Zucker mag ich eher nicht. Keine 2 Minuten später meldet mein Magen auch „Finger weg von dem Zeug!“. Eine Viertelstunde rumort es im Magen, dann ist es wieder gut. Lektion gelernt. Es läuft immer noch gut mit unserem Rennplan. Wir laufen nun bei etwa 6:15er Pace gemütlich die Bucht nach Osten und in Richtung des großen VP2, wo auch unsere Dropbags auf Abholung warten.
Im sumpfigen Gelände haben sich ein paar Läufergruppen zusammengefunden und hüpfen über die zahllosen Matschlöcher. Vor mir läuft Joe, der immer noch stolz auf seine schneeweißen und fast neuen Salomon-Trailschuhe ist. Korrigiere: war! Die nächste Matschkuhle war seine und nun ist es endlich vorbei mit fürchterlich sauberen Tretern. Die übernächste gehört mir und ich spüre wie Wasser in den Schuh sickert. Über eine lange, aber ziemlich filigrane Hängebrücke aus Aluminium-Elementen geht es über einen Fluss. Wenn man zu viert und überhaupt nicht im Takt über so eine Brücke läuft, kommt diese komplett aus ihrem Konzept des „Tragens“ und neigt zum Kippen. Unangenehm, wenn man fast in Slow Motion mitverfolgen kann was gleich passiert. Glücklicherweise endete die Brücke vor dem Crash.
Es geht einen Hang hinauf, wo es 50m entlang einer Bundesstraße geht um dann wieder in den Trail abzutauchen. Kurz darauf verschwinden wir im finsteren Wald. Die letzten 2km habe ich die Pace der Gruppe gemacht, überlasse aber nun Joe wieder das Ruder weil ich das Gefühl hatte zu schnell zu sein. Der Waldboden ist hoch bedeckt mit Laub, sodass wir nicht sehen können was darunter ist. Schwierige Laufsituation, denn auf diesen Trails liegen oft vereinzelte Steine. Ich merke nun, dass ich irgend etwas im rechten Auge habe, vermutlich eine Wimper oder Schmutz. Auf jeden Fall sehe ich rechts unscharf, was sich auf die räumliche Sicht auswirkt. Im schummrigen Licht ein echtes Handicap.
Während ich noch überlege was eigentlich das Problem ist und während wir die Gruppe vor uns überholen, pralle ich auf eine Wurzel im Laub die sich geschickt versteckt hatte, um mich dann in einem unpassenden Moment hinterrücks in Sachen Heimtücke von den Beinen holt. Die Flugphase war recht angenehm mit einem eleganten Rechts-Spin über die Längsachse. Die Landung glich in etwa der jener Lufthansa-Maschine am Vortag in Göteborg. Hart und schwankend! Hart vor allem auf dem rechten Ellenbogen auf einer weiteren Wurzel, die sich in Co-Union mit dem restlichen Wurzelwerk auf das Killen von Trailrunnern spezialisiert hatte. Erster Gedanke: Das wars! Der Knochen ist garantiert durch. Während die Umgebung nach wie vor stockdunkel ist, zucken vor meinen Augen Lichtblitze im Takt der Schmerzen. Die Petzl ist im hohen Bogen vom Kopf geflogen, liegt aber neben mir und hat es überlebt.
Joe hat den unerfreulichsten Teil meiner Darbietung ab Aufschlag mitverfolgt und erkundigt sich nach dem aktuellen Zustand. Mehr als ein „Passt schon!“ kann ich aktuell nicht liefern und laufe wieder, während ich mit der linken Hand nach Bruchstellen am Ellenbogen suche. Finde aber nichts. Der Arm lässt sich ohne Schmerzen kaum bewegen, aber es hilft nichts. Ich werde mir das am VP2 ansehen.
Das Augenproblem wird langsam nervig. Was zum Teufel ist da in meinem Auge? Es tut nicht weh, aber die Sicht ist nicht die, die ich gebrauchen könnte.
Gut sehen kann ich allerdings die plötzlich an uns vorbeilaufende Wikingerin und Schildmaid, Marke Lagertha (siehe Serie „Vikings). Eingeflochtene blonde Zöpfe, austrainiert, kurze Hose und generell viel dünner angezogen als wir. Alter Schwede, sind die tough, die Eingeborenen. Wir schauen uns an und sind beide ziemlich beeindruckt.
Wir verschleppen nun ein wenig die Pace und Joe rechnet bis VP2 eine Pace von 6:30 hoch. Schockiert mich, ich hatte eine 6:20 geplant. Bei Kilometer 33 haben wir anscheinend beide ein Tief. Eine typische Distanz für Tiefs, wie jeder Langstreckenläufer weiß. Nach 2 Kilometern ist es zumindest bei mir überwunden, Joe hadert noch ein wenig und hat nun ein anderes Anliegen: er möchte gerne Pinkeln. Kommt mir gerade nicht so gelegen. Ich nämlich nicht und ich mag ungerne zwei Stops machen. Also vertröste ich ihn mit der Rückfrage die man auch gerne als Elternteil stellt „Kannst Du es noch etwas aushalten?“. Er bejaht das und wir laufen weiter. Neuer Plan: wir erledigen das in einem Anstieg, wo die Pace eh langsam ist, so verliert man nicht sofort den Sichtkontakt zur Gruppe. Anscheinend wird es aber dringlicher und die Anforderung aus meinem Rücken wird auch aggressiver. Nach etwa 10 Minuten seit Joes Ansprache muss ich Joe nachgeben, bevor er mir einen Weidezaun über den Schädel zieht und wir lassen die soeben überholte Gruppe wieder passieren. Immerhin können wir das Ende der Gruppe halten und sind schnell wieder im Spiel.
Etwa einen Kilometer vor VP2 geht es durch einen gruselig wirkenden, jungen Birkenwald, der besonders dunkel und entlaubt ist. Als Erster der aktuellen Gruppe rechne ich jederzeit mit dem nächsten Sturz und versuche die Beine höher als eigentlich nötig zu heben. Mitten im Wald tauchen ein paar Gestalten mit Leuchten auf, sagen aber nichts und sollen uns entweder bei Sturz heraustragen oder Verirrten den Weg weisen. Oder man sucht in dieser Gegend Nachts um halb 3 halluzinogene Pilze.
Nach dem wir diesen Wald der verlorenen Seelen verlassen haben, geht es links auf etwas zu, was wie ein megaorganisierter VP ausschaut. Der Blick auf die Uhr bestätigt das. Knapp 45K sind geschafft und hier wartet warmes Essen, jede Menge anderer Kram, der Dropbag und Sitzplätze. Rein da!
Die überdachte Bude ist mit zahllosen Sitzbänken ausgestattet, auf denen locker 40-50 Läufer herumlungern, Essen, Trinken, sich Umziehen oder mit einer Vorstufe des Sterbens befasst sind. Noch während ich die Lage erkunde und die Dropbags suche, steht plötzlich Karina vor mir und ist sichtlich angefasst mit feuchten Augen. Schnell erzählt sie mir von zwei Stürzen mit Umknicken und zeigt mir das deutlich angeschwollene Fußgelenk. Das schaut überhaupt nicht gut aus und muss beträchtlich schmerzen. Der Sani hat sie vor die Wahl gestellt: Weiterlaufen auf eigene Gefahr (blöde Idee) oder Behandeln (DNF). Eine tröstende Umarmung kann ich anbieten und sie nur darin bestätigen, dass ein Ausscheiden an der Stelle der deutlich weisere Entschluss ist. Nur zu gut weiß ich, dass die Reststrecke bis ins Ziel eine ganze Menge schwierig zu laufender Passagen mit sich bringt. Niemals würde sie mit dieser Verletzung das Ziel erreichen. Sehr traurig, ich kann ihren Kummer absolut nachvollziehen, während Joe auch zu uns stößt und wir uns kurz abstimmen.
Der Dropbag ist schnell entleert und Material umgepackt. Der Akku der Petzl Nao RL wird ausgetauscht, hatte aber noch gut Reststärke. Da ich aber kein unnötiges Gewicht mit mir herumschleppen will, wandert er in den Dropbag. Eine Tüte Krupuk (Garnelen-Chips) ist meine Geheimwaffe, darauf habe ich mich schon gefreut. Die warme Abteilung des VPs lasse ich links liegen, hatte mich im Vorfeld dagegen entschieden um nicht zu viel Zeit zu verlieren. Das sich das rächen wird, lerne ich später. Als ich fertig bin, macht Joe Striptease neben mir und tauscht Layer 1 und 2 aus. Dann kommt, was ich befürchtet hatte, als er mir den Laufpass gibt, da es ihm etwas zu zügig wurde und er nun lieber in seinem Tempo weiterlaufen will. Das kann ich absolut verstehen und wir beide wissen nach fünf gemeinsamen Tagen beim Wüstenrennen von Ultra X im Wadi Rum auch, dass es keiner dem anderen krumm nimmt. Immerhin müssen wir nun beide mutmaßlich alleine laufen. In der Nacht ist das auf einer solchen Distanz ein echtes Paket. Ich beeile mich also VP2 zu verlassen, werfe meinen wieder verschlossenen Dropbag in die „Fertig-Container“, entlasse mich selbst in die Nacht. Also nun Einzelkämpfermodus.
Begegnungen – der humpelnde Pirat und die Pacerin
Irgendwo in der Ferne bewegt sich vor mir eine Headlamp, ansonsten ist niemand zu sehen. Direkt hinter dem Checkpoint gibt es eine Streckentrennung für die Hundertmeiler, die hier auf eine Extrarunde im Inland abbiegen, um ihre zusätzlichen 57K auf die Uhr zu bekommen. Also Augen auf beim Eierkauf und nicht abbiegen! Wie ich später erfahre, hat jemand an dieser Stelle genau das falsch gemacht. Fleißpunkte gibt es dafür nicht, blöd gelaufen.
Es geht durch die Ortschaft und den Hafen, dann auf asphaltierten Wegen immer am Wasser entlang. Verdammt ist das kalt geworden. 1 Grad sagt der Temperatursensor und mein neongelber Buff rutscht nun weiter nach oben. Die Pace habe ich wieder deutlich angezogen, da mir die Zielzeit von 12 Stunden auf 104km immer weiter aus den Händen glitt. Es läuft extrem gut und ich fühle mich nach der kurzen Pause wieder frisch und fast unverbraucht. Die Tüte Krupuk war eine gute Idee, aber ganz geschafft habe ich sie nicht – zum Ende wurde es mir zu trocken und krümelig. Die Möwen hat es gefreut.
Dann laufe ich auf eine Gruppe aus 3 Läufern auf. Der Typ in Schwarz, gut vermummt, scheint sich am linken Bein verletzt zu haben und humpelt. Warum er dann so zügig läuft, erschließt sich mir nicht. Ich bleibe zunächst hinter der Gruppe bei einer Pace von knapp 6 Minuten und beobachte das Schauspiel. Die beiden anderen ziehen dem, den ich in der Situation Käpt’n Holzbein taufe, immer wieder davon und ich denke das wars dann wohl. Doch jedes Mal schießt er wieder an uns vorbei. Was angesichts der krassen Humpelei lächerlich wirkt. Wie will er das noch über 50K durchziehen? Wie kann man so übermotiviert das ganze Rennen aufs Spiel setzen? Auf der Straße scheint es ja noch zu gehen, aber es warten endlose Meilen an schwierigem Gelände auf uns. Das Schauspiel wiederholt sich 5-6 Mal und so langsam komme ich mir vor wie in einer Zeitschleife gefangen. Irgendwann scheint es dem führenden Mädel dann auch zu viel geworden sein und die Pace wird aggressiver. Das ist ein Statement und ich schließe mich ihr an. Zurück bleiben Käpt’n Holzbein und der andere Läufer, die wir nicht mehr wiedersehen werden. So trabe ich also einige Minuten hinter dem Mädel hinterher. Eine Schwedin, wie ich an der Startnummer kurz sehen konnte. Abwartend, ob sie mich auch loswerden will. Will sie nicht, das Tempo bleibt und liegt recht gut in meiner Planung.
Es geht über wilde Strandabschnitte und auf einen Wald zu, der sich von der Küste etwas entfernt. Der Skåneleden gabelt sich hier, das gibt es öfter, ich kenne das aus unseren Urlauben an der Ostküste, wo dieser Trail auch verläuft. Die Garmin piepst, weil sie nun rechts in den Wald abbiegen will, das Mädel läuft weiter am Strand entlang. Ich rufe sie also zurück und zeige auf mein Display, erkläre, dass der direkte Weg anscheinend nicht der offizielle ist. Letztlich finden diese Trails immer wieder zusammen, aber eine Disqualifikation kann ich im Finish nicht gebrauchen. Sie folgt mir nun, aber die Lage ist etwas schwierig zu beurteilen, da ich an der Uhr den UltraTrac-Modus aktiviert habe um Energie zu sparen. Damit ist die Navigation etwas ungenauer und der dichte Baumbestand stört das GPS-Signal obendrein. Also wo ist nun der Abzweig auf den richtigen Trail? Langsam laufen wir weiter und suchen im Dunkeln den Traileinstieg. Einige Singletrails bieten sich an, aber die Uhr scheint unzufrieden, bis wir nach 500m eine geteerte Straße finden, die durch den Wald führt. Endlich! Hier sind wir richtig und beschleunigen wieder, nachdem sich schon einige Läufer genähert hatten. Ich merke, meine Begleitung ist erstens beruhigt, dass ich Navigation auf der Uhr habe (sie offensichtlich nicht) und und zweitens nicht beabsichtige sie abzuhängen oder absichtlich ins Off laufen zu lassen. Auf den nächsten Kilometern nähern wir uns ein wenig an, aber sie bleibt schweigsam und das ist auch vollkommen in Ordnung.
Auf bekanntem Terrain – es wird langsam heftig
Inzwischen haben wir den Abschnitt bei Vejbystrand erreicht, den man auf der 57K Strecke von Norden her erreicht. Ab hier kenne ich mich wieder aus, denn den kompletten Rest der Strecke bin ich im Sommer bereits gelaufen. Allerdings ist es in der Dunkelheit dann doch schwerer als gedacht. Zu schnell übersieht man Abzweige und immer wieder treffen wir auf Läufer, die urplötzlich aus dem Gebüsch springen, weil sie irgendwo falsch abgebogen waren und den Fehler zu spät bemerkten. Genau das passiert uns auch. Wir verpassen einen Abzweig, der vermutlich keinen Reflektorstreifen hatte und laufen über einen Strandweg auf eine Ortschaft zu. Mir kommt das nach ein paar Hundert Metern komisch vor und wechsle an der Uhr auf die Navi-Ansicht. Es gab keine Korrekturmeldung, aber auf der Karte ist zu sehen, das wir parallel zum Strandtrail laufen und uns davon zunehmend entfernen. Im normalen GPS-Modus wäre das aufgefallen, mit UltraTrac muss man aufmerksamer laufen. Also suchen wir erneut nach einem Trail, der links durch die wilde Landschaft irgendwie auf den richtigen Trail führt. Tänzelnde Headlamps vor uns zeigen, die Richtung stimmt und kurz danach sind wir wieder korrekt unterwegs. Der Ausflug hat uns zwei Plätze gekostet, denn die beiden die uns beim Einschwenken auf den Skåneleden überholen, hatten wir vor eine Viertelstunde kassiert.
Kurz nachdem wir Vejbystrand verlassen, erreichen wir die angrenzende Siedlung Stora Hult und damit auch den Strand-VP mit gleichem Namen. Hier gibt es nur Getränke, die ich aber nicht will. Im Vorfeld hatte ich mit den Näak-Energy Drinks herumgetestet und festgestellt, dass ich sie mutmaßlich vertrage, aber nicht mag. Dafür habe ich einige Packs mit Squeezy Energy Drink Pulver der Type Basic Formula im Rucksack. Leicht zitronig, keine sonstigen Inhaltsstoffe, quasi pure Energie. Routiniert wird aufgefüllt und während ich mich wieder lauffähig mache, langsam lostrabe, schaue ich interessiert, ob meine Schwedin auch kommt. Sie kommt und das freut mich sehr, denn zu zweit läuft es sich in der Dunkelheit deutlich angenehmer – auch ohne viele Worte.
In diesem Abschnitt wird die Natur recht wild. Es wechseln sich Trails auf sehr matschigen Böden, mit teils bereits angefrorenen Holzbohlen darauf ab, Geröllfelder laden zum Gehen ein, da man hier sehr schnell umknickt. Dornenbüsche kratzen an den Händen und hier und da verliert sich der Trail in hügeligen Strandwiesen. Wunderschön im Sommer, wenn man Zeit hat. Bei Kälte im Dunkeln zunehmend schwierig. Immerhin haben die Sturmböen inzwischen aufgehört.
So langsam spielt sich unsere kleine Laufgemeinschaft ein. Wir wechseln uns immer wieder in der Führung ab, halten das Tempo sehr gleichmäßig und achten aufeinander. Fällt einer zurück, wartet der andere oder nimmt das Tempo raus. Das ist ganz großartig, denn inzwischen merken wir beide die Anstrengung deutlich und es tut gut, mal eine Zeitlang hinter dem anderen zu laufen, auch wenn das Tempo vorne gleich wäre. Man darf Verantwortung abgeben und nur folgen, das entspannt.
Aus so einer folgenden Situation heraus beschäftigt mich mein Auge erneut. Immer noch keine scharfe Sicht auf dem rechten Auge und ich finde die Ursache nicht. Mit klarem Wasser ausspülen hat beim letzten VP nichts gebracht. Und während ich noch darüber nachdenke was zu tun ist, bleibe ich mit der rechten Fußspitze an einem Felsstück auf zerklüftetem Gelände hängen. Dieses Mal sind es Steine, die meinen Sturz auffangen und der Erstkontakt ist das linke Knie. Meine Begleitung hat den Sturz natürlich mitbekommen, bleibt stehen und fragt mich, ob es mir gut geht. Ich bejahe das, bin mir aber noch nicht ganz so sicher. Am Knie spüre ich etwas warm herunterlaufen, vermutlich eine kleine Platzwunde, aber nicht wild. Sonst passt alles und wir setzen die wilde Reise fort. Erst im Ziel stelle ich eine gerissene Hose, eine Platzwunde und ein paar Kratzer fest und erst jetzt beim Schreiben wird mir klar, dass die mysteriöse Prellung am rechten Fußrücken vermutlich hier seine Ursache hatte und letztlich der Grund war, warum die Schuhzunge für den Rest des Laufs extrem unangenehm auf die Prellung drückte und mehrfach gerichtet werden musste – ohne große Besserung.
Nach der kleinen Adrenalin-Einspritzung bin ich nun wieder deutlich wacher und aufmerksamer, übernehme wieder die Führung. Auf wechselhaften Abschnitten ist es oft auch einfacher vorne zu laufen als zu dicht hinter dem Laufpartner. Hindernisse nimmt man so früher wahr und das ist mit steigender Laufdistanz wesentlich, denn hinten raus hebt man die Beine einfach nicht mehr so hoch wie noch anfangs. Die Ermüdung steigt, wir überholen inzwischen alle paar Minuten Gruppen anderer Läufer, die nur noch Gehen. 65 Kilometer sind geschafft und es wird härter das Tempo halbwegs zu halten. Doch die Distanz nach Glimminge und somit zum VP4 ist kurz, zwischen VP3 und VP4 liegen nur 9 Kilometer.
Die Gefährten – aus einer losen Laufgemeinschaft wird ein Team
Inzwischen habe ich wieder volle Orientierung und ich erinnere mich an den kompletten Abschnitt mit all seinen Facetten und Schwierigkeiten. Der nächste VP kann nicht mehr weit sein und ich überlege, wie es nun weitergeht mit unserer „Beziehung“. Immer noch sprechen wir recht wenig und wenn, dann sachbezogen. Ich denke sie traut sich nicht so richtig auf Englisch, obwohl wir gar keine Verständigungsschwierigkeiten haben. Um aber Gewissheit zu bekommen, frage ich sie einfach, ob wir das Rennen gemeinsam zu Ende laufen wollen. Volltreffer! Sie dreht sich um, lächelt und vertraut mir an, dass sie das sehr gerne machen will. Christine heißt sie und kommt aus Uppsala nördlich von Stockholm. Man spürt förmlich eine gewisse Erleichterung und das ist toll, denn mir taugt es ebenso nicht alleine laufen zu müssen.
So laufen wir in Glimminge in VP4 ein, füllen erneut auf und ich merke, dass sie offensichtlich einen Supporter hat. Später erzählt sie mir, dass es ihr Freund ist und ganz offensichtlich mit großer Leidenschaft dabei ist. Nach etwa 2 Minuten sind wir wieder auf dem Trail. Die kurze Pause hat Kraft gegeben.
Nächstes Ziel ist die sehr nette kleine Hafenstadt Torekov. Hier hatten Lotte und ich im Sommer kurz Rast gemacht, bevor es in den vorletzten Abschnitt geht, der keine Orte mehr bietet, sondern nur noch vereinzelte Hütten im Nirgendwo. Um 06:35 Uhr erreichen wir den Hafen von Torekov und hier steht nun nicht nur Christines Freund erneut, sondern auch Lotte und Daniel. Da haben sich die beiden doch tatsächlich schon wieder aus dem Bett gequält und über das Livetracking die Position von Joe und mir gesichtet, sich dann für Torekov entschieden. Das freut mich sehr. Diese kurzen Motivationslichtblitze am Läuferhorizont tun wirklich gut. Support in Form von Nahrung oder Equipment ist untersagt, also bleibt es bei einem schnellen Wortwechsel und einem Kuss. Eine knappe halbe Stunde später werden sie Joe an gleicher Stelle ebenfalls pushen, der sich genauso freut und alleine läuft. Bis zum Ende des Rennens wird er als Einzelkämpfer den Kullamannen niederringen, was überaus beeindruckend ist. Gerade in der Nacht. Wer hier nicht in eine positive Gedankenwelt abdriften kann, findet sich schnell in der düsteren Läuferhöhle und nicht jeder verlässt die Cave wieder.
Die Sonne geht auf – die Stimmung versinkt im glühenden Meer
Während die Sonne aus dem Meer emporsteigt und ich mich darüber freue wie zuverlässig doch die beiden Akkus der Petzl die Nacht durchstanden haben und immer noch genug Saft haben, ist nun eine gewissen Erschöpfung nicht mehr zu leugnen. Der körpereigene Akku vermeldet Reservebetrieb. Stimmt nicht, meistens lügt er. Billige Psychotricks von der Kommandozentrale, die einfach keinen Bock mehr hat und sich jetzt lieber auf die Couch lümmeln möchte. Genug Energie habe ich aufgenommen, die Pace ist perfekt, die Herzfrequenz ist sowas von im grünen Bereich, Kraft ist eigentlich auch noch da. Trotzdem wird es gerade etwas arg mühselig.
Hinter mir werden Christines Schritte leiser und sie verliert ein paar Meter, während wir durch die zerklüftete und ausgesetzte Wildnis am Ufer laufen. Sie hat es schwer, schwerer als ich gerade, das sieht man. Und dann kommt auch schon die Frage, ob wir Tempo rausnehmen können. Ehrlich gesagt kommt mir das nicht so ungelegen, die Luft ist gerade etwas raus, es ginge schon noch, aber wir sind ja nun ein Team und langsam nun wirklich nicht. Da es der Trail eh kaum hergibt wirklich gefahrlos zu laufen, verlieren wir auch nicht zu viel Zeit, wenn wir mal zwei Minuten Gehen. Gedacht, getan. Und schon werden wir zurück überholt. Das ärgert mich dann doch, typisch für mich, denke ich mir. Ich muss wieder zurück zum besonnenen Start und das relaxter sehen. Vermutlich werden wir die beiden Burschen hinten raus wieder einfangen. Vermutlich ist das sowieso schwachsinnig, weil keiner von uns etwas mit der Top Ten zu tun hat. „Vermutlich“ bedeutet, denk nicht so viel, Ingo, genieß es.
Die Gehpause ist kurz, Christine beendet sie selbst und weiter geht es. Wir erreichen nun bei Kilometer 77 das Gröthögarna Naturreservat, die nördliche Spitze der Bjäre-Halbinsel. Über knapp 4 Kilometer geht es nun über einen sehr sandigen, vor allem feuchten Abschnitt. Weidezäune, Dornenbüsche, sumpfige Gruben, wippelnde Bretter und andere Hindernisse machen es auf jeden Fall nicht langweilig hier zu laufen. Die Weidezäume nerven so langsam ein wenig. Irgendein Spaßvogel hatte an der einen oder anderen eine kreative Phase und hat den Verschluss anders gelöst. So steht man also da und versucht das Rätsel möglichst schnell zu lösen – ohne sich dabei den Finger abzuquetschen.
Auch immer wieder gern gesehen (NOT) sind die Weidetreppen, wenn man ohne Tor in die Weide nebenan gelangt, dafür aber 3-4 Holzstufen hinauf und auf der anderen Seite wieder runter muss. Eigentlich Kindergeburtstag, bei Nässe und Eile, zudem müden Beinen aber von Überstieg zu Überstieg unbeliebter.
Wir verlassen das Gröthögarna mit der nächsten Geh-Session. Im Sommer habe ich am Wasser ein paar Robben gesehen, heute lungerten hier nur ein paar hardcoregelangweilte Schafe herum. Kein Cheering für uns, eigentlich sind wir es noch nicht einmal wert den Kopf zu drehen. So ähnlich verhält es sich auch mit den Kühen, die uns auf dem Weg zum nächsten und letzten VP Hovs Hallar (km 83) an den vorgelagerten Weiden der Klippen beobachten. Schwedische Kühe sind wirklich maximal gechillt und null neugierig, da könnten sich unsere bayerischen Kühe mal ein Beispiel nehmen.
Der letzte Checkpunkt bei Hovs Hallar – Licht und Schatten im Team
Im letzten Anstieg nach Hovs Hallar, ein Plateau in den Klippen mit riesigem Parkplatz und Restaurant, ist wieder einmal ein Kraftüberschuss bei uns beiden deutlich sichtbar. Christines Freund steht im Anstieg und feuert uns an, auf Englisch berichtet er auch mir, dass wir die einzigen Läufer sind, die hier nicht Gehen. Oben angekommen sind es nur noch 50m bis zum recht großen VP-Stand, dazu die Toiletten vom Parkplatz und ein kleines Buffet. Noch besser ist aber, dass auch Lotte und Daniel hier stehen und uns in Empfang nehmen. Die beiden Märtyrer erahnen, dass wir schon ein paar Mal im Zombieland waren und gelitten haben. So wahnsinnig frisch sehen wir wahrlich nicht mehr aus. Da mein Auge immer noch nicht wieder ok ist, frage ich Lotte, ob sie etwas erkennen kann oder ob mein Augenlid irgendwie komisch aussieht. Sie kann nichts erkennen. Verdammt, was ist das?
Aber trotzdem, dieser Support bringt ein paar Punkte Extramotivation für den nächsten steilen Anstieg, der auch der Beginn der Singletrails im Wald ist. Vermutlich matschig und rutschig.
Mein Squeezy Energy Pulver ist inzwischen vollständig verbraucht. Ich hätte im Rucksack mehr mitnehmen können, aber wo führt das alles hin? Also hatte ich ein letztes vollständiges Auffüllen der beiden Flasks mit dem Näak Energy Drink eingeplant – ein fataler Fehler, aber die Erkenntnis wird später kommen – zu spät.
Das Buffet sieht nett aus mit belegten Broten, Süßkram, Essiggurken und halben Bananen – dazu Cola. Zu mehr als Banane und Cola kann ich mich nicht hinreißen, noch so ein dämlicher Fehler. Ich will es nun zu Ende bringen, nur noch 21 Kilometer, die Distanz kenne ich sehr gut, sie ist fast zum Standard der letzten Monate geworden. Ein Blick zu Christine, sie nickt nur und weiter geht’s quer über den Parkplatz in die hinterste Ecke, von der man schon die zu erklimmende Klippe sehen kann.
Mir ist die ganze Strecke wieder vollkommen vertraut aus dem Sommer, bei Tageslicht noch viel mehr als in der Nacht. Das müsste doch auf den 100 Meilen alle noch viel einfacher werden überlege ich, als wir die Klippe abgehakt haben und hinüber zum Wald laufen. Was für eine dämliche Idee! Inhaltlich richtig, in der Situation mit langsam echt schweren Beinen und total übermüdet, kann dieser Gedanke nur aus der Abteilung Hirnverschattung kommen. Auf solche Ideen kommt man 24 Stunden nach einem solchen Rennen, nicht währenddessen.
Ich erkläre Christine kurz was vor uns liegt. Bei ihrem letztjährigen Versuch gab es einen DNF, daher kennt sie die Strecke nicht. Und nun lerne ich direkt auch die andere Seite meiner neuen Freundschaft kennen – die Singletrailkönigin! Wie leichtfüßig sie vor mir über die engen und ausgesetzten Trails mit vielen Schlammabschnitten tänzelt. Man sieht sofort, sie ist in ihrem Element. Ich kann ihr kaum folgen, so schnell wieselt sie über den Trail und schnappt sich dabei Läufer um Läufer. Jeder Schritt sitzt, rauf und runter geht es. Ab und zu dreht sie sich um und schaut, ob ich noch da bin, während ich durch die Botanik stolpere und mir nun etwas ernsthafter Gedanken mache, dass diese Unschärfe auf dem Auge mich nun gefährlich beeinträchtigt. Das räumliche Sehen wäre aktuell extrem hilfreich. stattdessen ist das Gesichtsfeld eher so eine Art Milchglasscheibe auf der rechten Seite.
In Windeseile haben wir die Singletrails gemeistert und einige Plätze gutgemacht, dank Christine und ihren Bergziegenfähigkeiten. Nun geht es wieder hinunter und zwei Läufer passieren uns. Das liegt an mir, weil ich bergab (zu) vorsichtig bin und unbedingt einen dritten Sturz vermeiden will. Aktuell muss ich mich selbst als Bremse bezeichnen. Zudem hat der Magen nun auf Vollwaschgang geschaltet und das schiebe ich auf das Näak Energiegetränk. Mit Squeezy hatte ich das noch nie, egal wieviel und in welcher Konzentration. Vielleicht liege ich auch falsch, denke aber das ist die Ursache.
Inzwischen sind wir den Berg auf Asphalt wieder hinunter gelaufen und die Bergziege gibt richtig Gas. Woran das liegt, weiß ich inzwischen: ihr Freund hat ihr vorhin gesteckt, dass sie in ihrer AK (50-54) die Führende ist. Das ist ach meine AK, während ich aber meinen Plan auf das Podium zu laufen eher abhaken kann, hat sie noch alle Chancen. Das will ihr auf keinen Fall verderben und ziehe mit. Auf einer Landstraße geht es nun mit einer Pace bei 5:10 sehr schnell voran. Die Pace ist nicht mein Problem, die Kraft ist da, ob das gerade schlau ist angesichts des letzten Bergs und der noch fehlenden 16 Kilometer, ist zweifelhaft. Mir wird die Entscheidung von Magen und inzwischen auch Darm abgenommen. Grundsätzlich hätte ich sofort anhalten wollen, überlege aber wie ich das nun mit Christine mache und ob ich das einfach durchziehe mit ungewissem Ausgang. Mittig auf den 2,5 Kilometern zwischen den beiden Bergen beschließe ich kurz anzuhalten und wenigstens kurz einen Baum zu wässern. Christine läuft noch 50m weiter und merkt dann, das etwas nicht stimmt, hält an, schaut zurück, was ich durchs Gebüsch sehen kann und ihr zurufe, sie soll einfach weiterlaufen und sich ihren Podestplatz holen, ich komme nach. Mir ist klar, dass ich sie nicht mehr einholen werde, wenn sie so weiter macht. Christine brüllt zurück, das wird sie nicht machen. Ich schreie, das alles gut ist und ich ihr das überhaupt nicht übel nehme, nicht wisse wie lang meine Schmerzen brauchen um abzuklingen. Zurück kommt, dass ihr das egal sein – sie wartet so lange wie es eben dauert. Pfuah! Was soll man dazu sagen! Die Frau hat Nerven. Würde ich meinen Podestplatz für jemand anderen opfern, der nicht direkt stirbt, sondern „nur“ ein Magenproblem hat? Ja, würde ich, aber evtl. bräuchte ich 5 Sekunden länger um das zu beantworten. Sie hat nicht mal überlegt. Das neue Lagebild ändert sich in diesem Augenblick. Die Baumbewässerung ist fehlgeschlagen, der akute Schmerz lässt etwas nach und ich beschließe die Reisende nicht länger aufzuhalten.
Etwas langsamer geht es nun zum Einstieg des letzten Bergs. Die kurzzeitige Speedoffensive ist nun vorbei. Wir gehen den Berg hinauf. Im Sommer bin ich den Weg hinauf problemlos gelaufen, jetzt ist das schwierig. Auch bei Christine ist die Luft etwas raus, denke ich. Genau weiß ich es nicht, könnte auch sein, dass sie auf mich Rücksicht nimmt.
Kurz vor erreichen des Gipfel überholt uns ein Mädel aus einer AK unter 30, schätzungsweise 20-24. Das gibt den Anstoß das Gehen zu beenden, zum Freiwild wollen wir nun doch nicht werden. Dann taucht Christines Freund wieder auf und brieft sie, motiviert sie den letzten Rest durchzuhalten. Ich verstehe nichts von alledem, und doch irgendwie alles. 300m später taucht ebenso plötzlich Lotte auf und beginnt mit dem Smartphone filmend neben uns einen kleinen, weiteren Anstieg zu laufen. Oben steht auch Daniel und Hejat! uns. „Ab hier geht’s nur noch runter!“ hören wir, stimmt nicht, das weiß ich – der folgende Waldtrail geht primär runter, aber teilweise auch wieder hinauf. Das kann man auf dem Profil aber kaum sehen. Es ist aber gut das zu wissen. Mit dieser mental letzten Stärkung biegen wir hinüber zum letzten Singletrailabschnitt in den Wald ab und die wilder Fahrt beginnt …
Endspurt mit Tücken – die grausamen letzten Kilometer
Rauf und runter geht es und wieder sind es einige riesige Matschlöcher, die uns ausbremsen. Meine schwedischer Bergziege demonstriert mir erneut ihre Singletrailstärke und erneut muss ich mich anstrengen dran zu bleiben. Kräftetechnisch geht das alles, aber der Magen krampft und mir ist aktuell unklar, ob ihr bewusst ist, dass wir ab Entry Båstad NICHT ins Ziel laufen, sondern noch knappt 6K vor uns haben? Fragen kann ich sie nicht, sie ist damit beschäftigt Ballett auf dem Trail zu machen.
Irgendwann ist auch der letzte An- und Abstieg abgehakt und wir treffen wieder auf eine stark abfallende Straße, die uns zurück auf die Küstenstraße führt. Mit Highspeed geht es hinunter und rechts ab auf einen Uferweg für Radfahrer und Fußgänger, der in Båstad endet. Schuler an Schulter nehmen wir die drei Kilometer bis zum Hafen in Båstad in Angriff. Eigentlich wollte ich es hier ein wenig langsamer angehen, doch Christine ist kaum zu bremsen. Der Podestplatz hat starken Magnetismus, denke ich mir. Dann ist der Hafen erreicht und ab hier kann man das Ziel fast sehen, es liegt nur etwa 300m rechts von uns in einem Anstieg und ist gut hörbar, da dort Finisher angekündigt werden. Unsere Strecke geht am Hafen entlang durch die Menschenenge aus den bald startenden 57K und 20K Läufern sowie deren Zuschauern. Das ist eher suboptimal, denn wir müssen uns selbst den Weg bahnen.
Die letzten 6K laufen und ich kenne den Pfad gut vom Vorabend, da Joe und ich diesen als etwas zu langen Leg Shakeout gelaufen sind. Von daher ist mir mehr als bewusst, dass diese „letzte Meile“ absolut nicht zu unterschätzen ist. Vor allem wenn man kurz vor „Tank leer“ ist und sich zwingen muss immer wieder einen Schluck Energy Drink aus dem Flask zu nehmen. 5 Sekunden später geht jedes Mal der Vollwaschgang im Magen wieder an.
Offensichtlich hatten wir an irgendeiner Stelle das junge Gemüse aus dem letzten Anstieg wieder überholt, wo auch immer. Nun schießt sie erneut an uns vorbei und das nervt mich erneut. Man kann ja nur den Hut vor dieser Leistung ziehen, aber ärgern tut es trotzdem so leichtfüßig abgehängt zu werden. Die Sache entspannt sich wenige Sekunden später, als die junge Dame in die nächste öffentliche Toilette am Ufer eincheckt. „Problem solved!“ merke ich an, Christine lächelt.
Der Uferweg zieht sich endlos wie Kaugummi und ich erkläre Christine, dass es noch etwa 800m sind und der Wendepunkt an einem Flüsschen ist, dass den Weg abschneidet. Vermutlich klang das zu negativ, sie bittet darum eine Gehpause einzulegen. Bei mir lief es gerade wieder, mal abgesehen vom Magen, aber hey – ich war vorher die Bremse. Gehen, Laufen, gehen, Laufen – wir werden von einem Mountainbiker in Schutzkleidung informiert, dass jetzt gleich die 20K Läufer hier durchkommen und wir uns dann verziehen sollen. WTF? Wir haben gerade die 100 auf dem Display der Uhr entdeckt und jetzt sollen wir den 20K-Läufern Platz machen? Geht’s noch? Wo bleibt da der Respekt vor der Distanz? In mir steigt Wut hoch und ich würde den jungen Schnösel auf seinem Bike gerne re-justieren, aber vermutlich bin ich zu langsam um ihn von seinem Bock zu holen.
Der Wendepunkt ist erreicht. Noch etwas mehr als 3K. Wir wiederholen das alte Spiel aus Laufen und Gehen. Merklich ist bei Christine ein kapitaler Einbruch am Werk. Das wundert mich nicht, aber fasst hätte sie es bis zum Finish gebracht – mal abgesehen von der Schwächephase in Naturschutzgebiet. Etwa einen Kilometer vor dem Ziel kommen wir aus dem Wald heraus und sind wieder im Hafenbereich mit zahlreichen Menschen auf der Straße und dem Ziel vor Augen. Jetzt kann nicht mehr gegangen werden. Der Magen blubbert, die Beine sind stark und so geht es nun wieder etwas zügiger voran. In der letzten Kurve zum Finisher-Hügel stehen ein letztes Mal Charlotte und Daniel, auch Karina ist da und feuert uns an. Der rote Teppich zum Finish wartet auf uns und während wir uns nebeneinander an die letzten Höhenmeter machen, schiebt sich ein großer Däne zwischen uns vorbei und versaut das gemeinsame Finisherfoto. Wir kommen fast zeitgleich auf der Ziellinie an und der uns unbekannte Läufer mittendrin. Das stinkt mir gewaltig. Muss so etwas sein? Nach 104,5 Kilometern muss man nicht einem ganz offensichtlich gemeinsam laufenden „Paar“ das Finish versauen, um vielleicht noch 2 Plätze gut zu machen. *Kraftausdruck*
Christine und ich schauen uns an, ihre Augen sind etwas feucht und was folgt überrascht und freut mich gleichermaßen so sehr: mit einer innigen Umarmung beenden wir das Drama Kullamannen und Christine aus Uppsala sagt mir „Ohne Dich hätte ich es nicht ins Ziel geschafft. Ich bin so dankbar!“. Das kann ich nur zurückgeben. Gerade ist die Platzierung (Gesamt 84., 6. AK, nach Nicole Kessler (2. bei den Damen) schnellster Deutscher) zu einer totalen Nebensächlichkeit geworden. Eine Pace von Sub 7 war mein Ziel um unter 12 Stunden zu bleiben, geworden ist es eine 7:09 auf 12:27 Stunden. Zu diesem Zeitpunkt waren schon 117. Läufer/innen aus dem Rennen ausgeschieden, es wurden am Ende noch mehr. Ein Finish dieser Art hatte ich noch nicht und es erfüllt mich nach wie vor mit ein wenig Stolz, was wir gemeinsam geschafft haben.
50 Minuten später hat auch Einzelkämpfer Joe seinen Moment und biegt in den Finisherhügel ein. Meinen allerhöchsten Respekt.
Christine hat ihre AK-Wertung gewonnen und dazu gratuliere ich ganz herzlich. Ihre Siegerehrung habe ich leider verpasst. Unser Ferienhaus lag 2km jenseits der Partylocation und irgendwie hatte ich leicht schwere Beine.
Nachtrag und Fazit
Am nächsten Morgen ist mein Augenproblem erledigt und ich finde zahllose Beiträge von Ultraläufern im Netz, die bereits das gleiche Problem hatten. Die Gründe dafür sind wohl Übermüdung, Überanstrengung und zu wenig Feuchtigkeit im Auge – vor allem in Kombination.
Keine 24h später schreibe ich Daniel während des Rückwegs vom Flughafen, dass die 100 Meilen vielleicht doch keine so blöde Idee sind. Alleine schon deswegen um Danke zu sagen für diesen unglaublichen Einsatz an diesem Wochenende und damit er 2026 nicht alleine laufen muss. Joe wollte das kurz darauf auch nicht mehr ausschließen. Es scheint also einen zweiten Teil der Kullamannen-Story zu geben …
Was bleibt? Ein unfassbares Erlebnis im geliebten Schweden. Sauwindig, streckenweise scheisskalt, stark wechselnde Verhältnisse und schwer vorhersehbare Untergründe. Man unterschätzt die Strecke sehr, wenn man nur auf die Kursansicht schaut. An den VPs könnte man noch etwas arbeiten. Ansonsten: Großartig!
Und spätestens nach dem folgenden Recap-Video ist vollkommen klar, Teil 2 kommt übernächstes Jahr. Bei 1:06 bin auch ich kurz beim Packen des Dropbags zu sehen.
Weitere Links zu Kullamannen-Rennberichten
Der geplatzte Traum vom CCC in Chamonix
Verwendetes Material
Bekleidung | Nutrition | |
Jacke und Hose: Dynafit | Squeezy Energy Drink | |
Equipment | Anderes | |
Backpack: Black Diamond Licht: 2x Petzl Flasks: Salomon Powerbank: Nitecore Uhr: Garmin Smartphone: Google | Versicherung: ITRA | |